Wie Medikamente entstehen
Die Entwicklung eines Medikaments beginnt mit einer biochemischen Hypothese über einen verursachenden oder schädlichen Einfluss auf einen Krankheitszustand. Diese Hypothese stammt meistens aus epidemiologischen Vergleichen der medizinischen Grundlagenforschung oder aus neuen Erkenntnissen über biochemische Zusammenhänge. Die Daten stammen aus Korrelationen von Krankheitssymptomen mit Daten aus biochemischen, gentechnischen und massenspektrometrischen Methoden.
Diese Hypothese wird dann mittels zellulärer Systeme oder/und Tiermodellen verifiziert und damit die Grundlage für den Projektstart gelegt. Dazu hat die Stammzellentechnologie einen unschätzbaren Beitrag geleistet, indem nun krankheitsspezifische zelluläre, humane Systeme verfügbar sind.
Die Grundlage für die Zulassung ist Wirkung und Verträglichkeit.
Für die Zulassung eines Medikaments muss der Entwickler «lediglich» die Wirkung und die Verträglichkeit belegen. Wenn der Wirkungsmechanismus unbekannt ist, müssen ‹zumutbare Anstrengungen› zu seiner Aufklärung belegt werden und der Verträglichkeit (Toxizität) besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, aber wenn das Medikament wirkt, medizinischen Nutzen bringt und nicht schadet, wird es zugelassen.
Das Patent schützt die Investition in die Forschung
Ohne den Patentschutz gäbe es viel weniger Pharmaforschung, er ist der einzige Schutz der Investition. Patentierbar ist nicht eine chemische Strukturformel an sich, sondern nur die Anwendung eines Medikaments resp. einer chemischen Struktur gegen eine bestimmte Krankheit.
Zwei Wege zum Ziel
a) der klassische «target based» Zugang..
..besteht in der Beeinflussung der Funktion eines molekularen Targets durch patentierbare Liganden. Ein ‹Assay› wird entwickelt, um die Aktivität des Targets zu messen, und mit diesem Test dann die firmeneigene Substanzbibliothek untersucht (High throughput screening, HTS). Die Hits aus dem Screen sollten mehrere verschiedene chemische Grundstrukturen mit Aktivität liefern.
Dieser Weg wurde in den vergangenen zwanzig Jahren perfektioniert und hätte zu spezifischeren Medikamenten mit weniger Nebenwirkungen führen sollen. Er ist ‹rational› d.h. er basiert auf bekannten physikalischen Interaktionen zwischen Molekülen – dem Medikament und dem Target.
Wirkungen auf andere Targets (off-target Effekte) bleiben aber unentdeckt. Diese muss man im Laufe des Projekts ausschliessen.
Erfahrungen
Tatsächlich ist es gelungen, Wirkungen auf andere Targets auf ein Minimum zu beschränken, aber man musste auch lernen, dass in mehreren Fällen trotz demonstrierter biochemischer Wirkung der medizinische Effekt zu wünschen übrig liess. Gegenwärtig wird die Hypothese vertreten, dass ein gewisser Anteil von ‹Polypharmakologie› für gute Medikamente von Vorteil sei. Der Ansatz wurde unter anderem als ‹Network pharmacology› bezeichnet [1]
b) der «phänotypische» Ansatz..
..besteht in der direkten Anwendung eines der Hypothese zugrundeliegenden Testverfahrens auf die Substanzsammlung des Unternehmens (Screening). Die Stammzellentechnologie hat inzwischen krankheitsrelevante zelluläre Systeme für das Screening verfügbar gemacht und damit dem phänotypischen Zugang viel Auftrieb gegeben.
Dieses Verfahren liefert Kandidaten in sehr kurzer Zeit, sortiert schlecht penetrierende (= schlecht bioverfügbare) Substanzen direkt aus und untersucht in einem vollständigen zellulären Kontext. Wie die Substanzen aber biochemisch wirken, weiss man nicht.
Deshalb ist zur Identifikation des Wirkungsmechanismus› eine neue Aufgabe namens ‹Target Identification‹ (TID) entstanden. Sie besteht darin, das ‹Interaktom› – alle biochemischen Interaktionspartner – des gefundenen Hits zu identifizieren und zu validieren.
Erfahrungen
Hits aus phänotypischen Screens sind mit einem grossen Nebenwirkungsrisiko behaftet. Die ganzen modernen Methoden des ‹rational drug design› können nicht – oder erst nach der TargetID – zur Optimierung eingesetzt werden und der Chemiker muss zur früheren ‹trial-and-error›-Methode mit viel chemischem Syntheseaufwand und anschliessender Struktur-Aktivitätsanalyse zurückgreifen.
Die TargetID ist extrem schwierig, weil sie eine konzertierte Anwendung von mehreren komplexen und teuren Methoden der Genomik, Proteomik und Metabolomik auf dasselbe Modellsystem mit gleichzeitiger finaler Datenanalyse verlangt. Ich habe es mehrmals erlebt, dass unsere Firma trotz verfügbarer Mittel an dieser Aufgabe gescheitert ist, letztlich wegen der organisatorischen Komplexität.
Die Lead-Optimierung liefert den klinischen Kandidaten
Als ‹Lead› bezeichnet man eine Familie von ähnlichen chemischen Strukturen, die im Aktivitätsassay eine gute Wirkung gezeigt haben. Durch leichte Aenderungen an der Struktur werden die Eigenschaften gezielt in Richtung maximaler Aktivität, optimaler Wirkungsdauer und minimalem Risiko verbessert. Hier wird eine ganze Batterie von Assays auf alle neuen Kandidaten angewandt (Aktivität, Biophysik, Physikochemie, Toxizität, Metabolismus und Kinetik) und auch die ersten Tierversuche gemacht.
Jede Forschungsorganisation hat ihre eigene Tradition, diese Ergebnisse gegeneinander abzuwägen. Die Gewichtung ist stark durch Fehlschläge und Erfolge der Vergangenheit geprägt, und noch dazu hat jedes Projekt eine unterschiedliche Grundvoraussetzungen. Aus diesen Gründen gibt es kein Standardverfahren für diese ‹multidimensionale Optimierung› und der Entscheid wird nach vielen Diskussionen unter den Spezialisten und dem Management von Biologie, Chemie und Safety gefällt. Und ja, es ist so schwierig, wie es klingt..
Der Weg in die Klinik
Die Entscheidung für die nachgelagerten Etappen der frühen Entwicklung und klinischen Entwicklung teuer und deshalb muss das Projektteam für diesen Übergang auf eine Menge Fragen gefasst sein: Marktpotential, Konkurrenzsituation, Erfolgswahrscheinlichkeit, medizinischer Wert und Differenzierung von existierender Therapie.
Eines der Hauptprobleme dabei ist die Übertragung (translation) der Wirksamkeit von zellulären und Tiermodellen auf den Menschen. Hierbei ist es extrem hilfreich, wenn es für den klinischen Kandidaten einen messbaren biochemischen Response-Marker gibt, für den schon eine Analysenmethode existiert und für den gezeigt wurde, dass er im Tiermodell funktioniert und vielleicht sogar, dass Patienten und Gesunde diesbezüglich Unterschiede zeigen.
Hierzu will smv3.ch einen Beitrag leisten: Wir können die Entwicklung einer Biomarker-Strategie unterstützen, indem wir entsprechende Methoden in Zusammenarbeit mit Projektbiologie und externen Labors entwickeln und bedarfsgerecht validieren.
Ein persönliches Wort
Weil die Entwicklungszeit den Patentschutz aufzufressen droht, versuchen alle Firmen, diesen Prozess zu beschleunigen. Nicht immer mit Erfolg. Meiner Meinung nach liegt die Lösung in der Konzentration auf das Wesentliche – der Verbesserung der Patientensituation – , einer Kultur der gegenseitigen Unterstützung [3] und einer vernünftigen Frequenz von Strategieänderungen [4].
Referenzen
- Hopkins, A. L.: Network pharmacology: the next paradigm in drug discovery; Nat Chem Biol 4, 11, (2008); doi:10.1038/nchembio.118, M#5801
- Schenone, M., Dancik, V., Wagner, B. K. and Clemons, P. A.: Target identification and mechanism of action in chemical biology and drug discovery; Nat Chem Biol 9, 4, (2013); doi:10.1038/nchembio.1199 , M#5800
- Malik, F., Führen Leisten Leben; Campus Ed.; Ist ed. (2014), ISBN 978-3-593-50127-7.
- Drei bis fünf Jahre sind angesichts von zehnjährigen Entwicklungszeiten nicht vernünftig.
Ich bedanke mich sehr bei meinem Kollegen Daniel Schlatter für die Durchsicht dieses Artikels.